The Power of Rausch

Ich schließe mich in einer Kabine ein, setze mich ins kreischende Neonlicht auf den Klodeckel und starre die Tür an
Über die Klinke hat jemand mit Edding geschrieben, dass Corinna S. eine abgefickte Hure ist und auf den Strich geht
Wenn ich doch nur irgendwas für die Nase dabei hätte
Ein bisschen Kokain, ein kleines Näschen von Itchy's schrott speed würde auch schon reichen
Das Kribbeln in der Nase
Der taube Gaumen
Der bittere Geschmack, der langsam den Hals runter läuft
Das wäre schön
Oder einfach irgendeinen Kick
Irgendetwas, das irgendetwas mit mir macht
Ein Tequila mit Orange und Zimt
Bizarre Love Triangle hören, über Kopfhörer so laut es geht
Eine schnelle Nummer hier auf dem Klo mit einer der Hot Chicas oder Corinna S. oder sonst wem
Selbst der Gedanke an einen schönen heißen Kaffee mit viel Zucker erfüllt mich mit gierigem Verlangen
Rausch
Rausch
Rausch
Was wäre das Leben ohne Rausch?
Was bliebe dann noch, außer der schnöden Realität?
Dieser lähmenden Seuche, die alles beherrschen und sich überall breit machen will?
Die sich ständig als einzig legitime Autorität aufspielt, einen überrollt und stranguliert, bis man ist wie alle Anderen und einen langen, leisen Erstickungstod stirbt?
Vielleicht hat Silvia ja Recht und ich leide wirklich an Dopaminmangel
Vielleicht hat Flo Recht und ich habe wirklich Bindungsangst
Vielleicht haben Holger und Jolanda Recht und mein Ekel vor letzten Schlücken und 5€-Scheinen ist total neurotisch
Und vielleicht hat meine Mutter Recht und ich bin wirklich dafür dagegen zu sein
Und wenn schon
Was immer die Quacksalber an Diagnosen anzubieten haben, mir soll's Recht sein

Wenigstens ein Nikotinkick kann ich mir hier und jetzt verschaffen
Ich zünde mir eine Zigarette an, nehme drei kräftige Züge, muss husten, und zertrete die halb weg gerauchte Kippe auf dem Boden
Ich stütze meine Ellenbogen auf die Knie und lege das Gesicht in meine Hände
Und dann passiert etwas mit meinen Augen
Tatsächlich, sie werden feucht
Nicht vom Rauch, nicht vom Licht
Eine salzige Flüssigkeit
Ein verschwommener Blick
Ein zitternder Ozean unter den Augenlidern
Warum muss ich denn jetzt heulen?
Zum ersten Mal seit Jahren
Eine einsame Träne rollt schüchtern mein Gesicht herunter
Zögerlich, als müsse sie sich in dieser neuen Umgebung erstmal orientieren
Für eine Sekunde bleibt sie an meinem Kiefer hängen und zerschellt dann auf dem versifften Boden des Klowagens
Wie gut sich das anfühlt
Weinen, auch ein guter Rausch
Hatte ich schon fast vergessen
Etwas fühlen
Sich suhlen in einem warmen Bad aus Selbstmitleid
Hemmungslos und frei

"Ist da jemand drin?"
Es rüttelt an der Klinke, bollert gegen die Tür
"Hallo, ist da jemand drin?"
"Da sitzt jemand! Ich seh' doch die Schuhe!"
"Bestimmt beim Scheißen eingepennt."
So unvermittelt wie es angefangen hat, so schnell ist es auch wieder vorbei
Ich quetsche noch zwei bis drei Tränen hinterher, dann muss die schöne Traurigkeit wieder dieser unbändigen Wut weichen
Diesem irren Biest, das in mir tobt
Ein autarkes Wesen mit großem Hunger, unersättlich, nicht zu bändigen
Ich fühle mich auf einmal wahnsinnig bescheuert, heulend in dieser Klowagenkabine mit zwei nervenden Typen vor der Tür
Mit dem Ärmel meines Hemdes wische ich mein Gesicht trocken, ziehe die Nase hoch, wie meine Mutter in ihren schlimmsten Zeiten und spucke den Rotz auf das Geschmiere des Idioten, der ein Problem mit Corinna S. hat
Als ich aus der Kabine trete ist da nichts Schönes mehr
Nur noch zwei 17-jährige, die mich doof anstarren und dieses unbändige Verlangen nach mehr, mehr, mehr ...

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